Texte
Anne Bock - Neue Werkgruppen:
Bienenwaben, Flechten und Verdichtungen
Das Bild DOUBLED YELLOW I von Anne Bock entfaltet eine vibrierende Spannung zwischen zwei Farben, die gegensätzlicher kaum sein könnten: einem tiefen Schwarz und einem warmen, ockerfarbenen Gelb. Beide treten nicht in Konkurrenz, sondern stehen in einem offenen, gleichwertigen Dialog. Ihre Formen erscheinen fragmentiert, beinahe organisch, durchlässig wie von der Zeit angegriffen. Kleine Löcher, Sprenkel, Unregelmäßigkeiten verleihen der Oberfläche eine fragile Lebendigkeit. Der Auftrag erinnert an Tupfen, Spritzen, an die Spuren textiler Materialien – Verfahren, die an Jean Dubuffet oder Antoni Tàpies denken lassen. In ihrer gestischen Freiheit und Unmittelbarkeit knüpft die Komposition an die Tradition des Informel an, an Tachismus und Lyrische Abstraktion der Nachkriegsmoderne, deren Wesen der spontane Ausdruck, das Ungebändigte, das subjektive Zeichen war.
Doch dieser erste Eindruck einer reinen Abstraktion täuscht. Hinter Bocks Werken steht stets ein Blick auf die Natur – und die Frage, wie wir uns ihr neu annähern können. Ihre künstlerische Bewegung beginnt in der Landschaft: der wandernde Blick, der sich in schnelle, rhythmische Pinselzüge übersetzt, bis Linien und Flächen einen eigenen abstrakten Rhythmus formen. Doch schon bald richtet sie den Blick tiefer – auf die Mikrostrukturen, die verborgenen Gewebe der Natur. Sie findet sie in Bienenwaben, in Flechten, im Moos, im Dickicht. Natur zeigt sich ihr nicht als statisches Bild, sondern als Syntax der Variation: Wiederholung eines Motivs, das niemals identisch ist, sondern sich in jeder Wiederkehr verändert.
Um dieses Prinzip einzufangen, entwickelt Bock für ihre Werkgruppe BIENENWABEN ein eigenes Druckverfahren. Die Waben selbst werden zur Druckplatte: mit Farbe bestrichen, aufs Papier oder die Leinwand gepresst. Was entsteht, entzieht sich jeder völligen Kontrolle. Die weiche Materie reagiert unterschiedlich: Mal entstehen feine Linien, die den Hohlräumen den Vorrang lassen, mal verschwimmen diese im dichten Farbauftrag, wie in DIVIDED, wo sich die Farbe zu geschlossenen Schichten verdichtet, ins Pastose wächst. So entstehen Arbeiten, die stets zwischen Kalkül und Zufall oszillieren.
Die Technik der Monotypie bildet den Kern ihres Schaffens. Anne Bock bewegt sich zwischen Malerei und Grafik, zwischen Spur und Abdruck, zwischen einmaligem Gestus und technischer Vervielfältigung – und widerspricht doch dem Wesen des Drucks, der traditionell auf Reproduzierbarkeit zielt. Indem sie jede Arbeit zum Unikat macht, knüpft sie an Bestrebungen der Avantgarden an: Auch Expressionisten wie Ernst Ludwig Kirchner suchten im Holzschnitt nach der Einmaligkeit, nach dem individuellen Blatt, das sich jeder Serie entzieht.
Das Prinzip des Zufalls wird dabei nicht nur akzeptiert, sondern zum schöpferischen Motor. Max Ernst etwa entwickelte mit seiner Frottage ein Verfahren, das Oberflächenstrukturen ins Bild holte, ohne das Ergebnis je genau vorwegnehmen zu können. Bock geht in eine ähnliche Richtung: Sie entwirft Methoden, die dem Zufall Raum geben, ihn produktiv werden lassen. Während die Wissenschaft den Zufall zu bändigen versucht, begreift die Kunst ihn als Verbündeten. Stéphane Mallarmé hat dies in seinem berühmten UN COUP DE DÉS (1897) poetisch gefasst: Jeder Versuch, den Würfelwurf zu beherrschen, führt nur tiefer in seine Unvorhersehbarkeit.
So entstehen in Anne Bocks Werkgruppe BIENENWABEN Drucke in Schwarz-Weiß, teils auf Papier, teils auf Leinwand, variiert durch Farbe – Gelb in DOUBLED YELLOW I-IV, Blau in DOUBLED BLUE I und II. Und schließlich überschreitet Bock die Grenzen des Drucks, wenn sie in Arbeiten wie HANG ON die Bienenwaben mit Wachs in die Leinwand integriert oder sie in TOGETHER mit Draht fixiert. Der Abdruck wird zur Collage, der Druckträger zum Relief. Bocks Werk entfaltet sich als Suche nach einem Bild der Natur, das nicht abbildet, sondern ihre Strukturen selbst in den künstlerischen Prozess hineinholt.
In der Werkgruppe FLECHTEN wendet sich Anne Bock erneut den unscheinbaren Mikrostrukturen der Natur zu. Flechten – symbiotische Wesen aus Pilzen und Algen – bilden flächige Gebilde, die in unzähligen Farben changieren: von Weiß über leuchtende Gelb- und Orangetöne bis hin zu erdigen Braun-, moosigen Grün- und tiefen Schwarznuancen. In den Serien FLECHTEN 1–8 und FLECHTEN GELB I und II entfaltet sie dieses Farbspektrum als malerische Erkundung, die zwischen Nahsicht und mikroskopischer Abstraktion oszilliert.
Dabei überschreitet Bock technische Grenzen. Sie mischt Eitempera und Öl – zwei Malweisen, die traditionell getrennt bleiben: hier die von Hand gemischte Tempera, gebunden mit Eigelb, von kristalliner Leuchtkraft; dort die industriell in Tuben verpackte Ölmalerei, langsam trocknend, in langen Prozessen modellierbar. Bock vereint beide Verfahren und gewinnt daraus eine Malerei, die in vibrierenden Übergängen lebt. Schwarze Rautenstrukturen brechen auf, durchsetzt von lasierenden Schichten, die von gelb-orangen Punkten wie von leuchtenden Sporen durchdrungen sind. So erscheint die Natur nicht mehr als bloßes Motiv, sondern als lebendige Syntax: eine Sprache der Variation, die sich in Farbe und Form immer neu erfindet.
In ihrer dritten Werkgruppe VERDICHTUNGEN widmet sich Anne Bock erneut den Strukturen der Natur – diesmal jedoch in gesteigerter Intensität. Formen und Geflechte drängen ineinander, schieben sich über die Leinwand hinein und lassen in der Mitte einen Raum entstehen. Dieser Kontrast zwischen dicht verwobenen Partien und freigelassenem Rahmen erzeugt eine eigentümliche Räumlichkeit: eine Tiefe, die zugleich von Leichtigkeit getragen ist.
Die Titel – LEUCHTEN, MOOSE, LICHTUNG, DICKICHT, VERDICHTUNGEN – klingen wie Naturfragmente, als wären sie direkt aus einem Wald herausgelöst. Entsprechend schichtet Bock verschiedene Ebenen übereinander, experimentiert mit Überlagerungen und Transparenzen. Zwar bleibt sie der Ölfarbe treu, doch im Auftrag erweitert sie die Mittel. Anstelle des Pinsels nutzt sie etwa Gräser und Halme, um die Farbe wie einen Abdruck, wie eine Spur auf die Leinwand zu setzen. Die Malerei bewegt sich so an der Schwelle zum Druck: Farbe wird nicht nur gemalt, sondern gestempelt, gesetzt, gepresst – bis sich ein Bildraum öffnet, der die Natur in Verdichtung und Auflösung zugleich erfahrbar macht.
Anne Bocks Auseinandersetzung mit den Mikrostrukturen der Natur ist zugleich ein Ausdruck ihres ökologischen Bewusstseins. In Zeiten des Klimawandels und fortschreitender Umweltzerstörung, in denen die Natur für viele an Bedeutung verloren zu haben scheint, sucht sie über die Transformation von Natur in Kunst nach neuen Zugängen. Ihre Werke machen deutlich: Der Mensch steht nicht außerhalb, sondern ist Teil dieser Natur. So wie wir lernen müssen, in Einklang und Rücksicht mit unserer Umwelt zu leben, so gilt dies auch für das Miteinander der Menschen selbst.
Anne Bocks Werk sucht nach einer Sprache der Natur, die sich nicht in Abbildungen erschöpft, sondern im künstlerischen Prozess selbst eingeschrieben ist. Ob Bienenwaben, Flechten oder Verdichtungen – stets geht es um Strukturen, die zwischen Zufall und Gesetzmäßigkeit, Fragilität und Kraft oszillieren. Ihre Kunst wird so zu einer Metapher des Zusammenlebens: von Mensch und Natur, aber auch der Menschen untereinander. Sie erinnert daran, dass wir Teil dieser Variationen sind – und lädt ein, in den kleinsten Strukturen ein Bild des Ganzen zu erkennen.
Prof. Dr. Susanne König
Der Bilderzyklus "Rhythmus"
Ein eigener Bildzyklus Anne Bocks widmet sich dem Thema „Rhythmus“. So wie die Künstlerin in den anderen Arbeiten ihrer Schaffensphase 2023-2025 urzeitliche Kryptogame wie Moose oder Flechten auswählt, die seit Jahrmillionen existieren und quasi Zeugen der Evolution sind, oder sich in ihren Bienenwabendrucken ebenfalls einem existenziellen Phänomen der Natur widmet, wählt Anne Bock mit dem Thema „Rhythmus“ gewissermaßen weitere allgemein vertraute Motive aus, die sie neu interpretiert.
Gemeinsam ist den Werken aus dem Zyklus „Rhythmus“ ein dynamischer Farbauftrag mit den Materialien Öl, Ölpastell und Acryl auf Leinwand in unterschiedlichen Kombinationen. Gerade die Mischtechniken erlauben malerische Experimente und zeugen auch vom besonderen Gespür der Künstlerin, die Maltechnik selbst zu einem Teil des Bildes werden zu lassen. Man spürt hier die Freude an der Malerei und eine gewisse Beschwingtheit durch die Gefühle, die Sommer, Sonne, Wärme und Licht oder die Klarheit mancher sonniger Wintertage erzeugen, und die darauf drängen, auf die Leinwand gebracht zu werden.
Flüchtige Augenblicke werden eingefangen, nicht um sie festzuhalten, sondern um sie am Leben zu erhalten. Der Betrachter wird eingeladen, sich zwanglos den Rhythmen der Bilder hinzugeben, sie in sich aufzunehmen und sie durch eigene, ganz persönliche Assoziationen weiterzuführen.
Wenn man in die Betrachtung eintaucht, versteht man die Wahl des gemeinsamen Oberthemas „Rhythmus“. Der Begriff bezieht sich bekanntlich nicht nur auf die Musik, sondern er steht generell für regelmäßige, sich wiederholende Abfolgen von Mustern, Ereignissen, zeitlichen oder räumlichen Abläufen. Der Rhythmus schafft Ordnung und Strukturen und ist visuell und akustisch erlebbar. Letztlich ist es der Rhythmus der Natur, der alles bestimmt: Jahreszeiten, Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Leben und Sterben.
Hinter Flächen und Lasuren schimmern lineare Strukturen durch. Manche wirken wie die Zacken und Wellen eines Kardiogramms - der Herzschlag des Lebens. Mal sieht man abstrahierte Formen, Striche und Flächen, die erscheinen, als wären sie nach einem vorgegebenen Tempo gemalt worden; mal fühlt man sich wie bei einem Blick auf den blauen Sommerhimmel mit seinen weißen Kumuluswolken, wenn sich immer neue Formen, Dinge oder Elemente bilden und dann wieder verschwinden. Auf manchen Bildern meint man sogar einen Sog zu verspüren oder einen Wirbelwind zu fühlen, der zwar zunächst Chaos schafft, aber auch alles neu organisiert.
Lässt man sich auf die Werke Anne Bocks ein, fühlt man sich angezogen, gerade so, als wolle einen das Bild tief in sich hineinziehen, um das gemeinsame Thema erlebbar zu machen: Das Werden und Vergehen in unendlichem Rhythmus, der das Leben, die Natur, unseren Planeten und letztlich das Universum formt, von dem wir nur ein winziger Teil sind.
Dr. Katrin Schäfer